Wann ist Reisezeit bezahlte Arbeitszeit?
In zahlreichen Branchen sind die Mitarbeiter viel unterwegs. Klassisches Beispiel ist der Außendienst, bei welchem das Reisen quasi selbst zur Tätigkeit gehört. Es gibt aber eine Vielzahl weiterer Beispiele, wie beispielsweise Montagetätigkeiten in der Baubranche oder die Erbringung von Beratungs- oder Serviceleistungen bei Kundenunternehmen in anderen Städten oder sogar Ländern.
In der Praxis werden vielfach solche Reisezeiten vom Arbeitgeber nicht bezahlt. Oft geschieht dies mit dem Hinweis, das Reisen stelle ja keine Arbeit dar und der Mitarbeiter könne die Zeit verbringen, wie er wolle. Er könne auch Privatbeschäftigungen nachgehen, „dösen“ oder was auch immer tun.
Aber ist dies auch arbeitsrechtlich haltbar? Nach der aktuellen Rechtsprechung lautet die Antwort: Eher nein.
Grundsätzlich ist Reisezeit natürlich immer dann zu bezahlen, wenn während der Reise die eigentliche Arbeitsleistung erbracht wird (beispielsweise Aktenstudium, Vor- oder Nachbereitung von Besprechungen, Beantwortung von E-Mails). Hier besteht letztlich kein Unterschied, ob der Mitarbeiter seine Arbeitsleistung im Büro oder auf Reisen erbringt.
Differenzierter ist Reisezeit zu beurteilen, während der nicht im eigentlichen Sinne gearbeitet wird. Das Bundesarbeitsgericht hat sich in einigen neueren Entscheidungen mit der Frage befasst, wann solche Reisezeiten eigentlich vergütungspflichtig sind.
Zunächst wurde mit Urteil vom 22.04.2009 (Az.: 5 AZR 292/08) über die Reisezeit eines Außendienstmitarbeiters befunden. Dieses Urteil sprach dem Außendienstmitarbeiter einen Vergütungsanspruch für seine Reisetätigkeit zu. Das BAG führte aus, Arbeit sei jede Tätigkeit, die als solche der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses diene. Zwar werde grundsätzlich für den Arbeitgeber durch den Weg zur Arbeit keine Arbeit erbracht. Die Reisetätigkeit von Außendienstmitarbeitern gehöre jedoch zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten. Da sie keinen festen Arbeitsort haben, könnten sie ihre vertraglich geschuldete Tätigkeit ohne dauernde Reisetätigkeit nicht erfüllen. Es sei gerade das wirtschaftliche Ziel ihrer Tätigkeit, verschiedene Kunden zu besuchen, wozu die jeweilige Anreise zwingend gehöre. Das gelte nicht nur für die Fahrten zwischen den Kunden, sondern auch für die Fahrt zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück. In jedem Falle sei eine dem Arbeitgeber zugutekommende Arbeitsleistung dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer bei der An- und Abreise selbst tätig werden muss und die Fahrt vom Arbeitgeber kraft Direktionsrechts bestimmt wird. Wenn der Arbeitnehmer sich von seiner Wohnung aus unmittelbar zum Kunden begebe, anstatt den Umweg über den Betrieb nehmen zu müssen, komme allerdings die Anrechnung einer Zeitersparnis in Betracht.
Aus diesem Urteil lassen sich zunächst folgende wichtige Schlussfolgerungen ziehen:
- Der Weg von zuhause zum Betrieb (so genannte Wegezeit) ist nie vergütungspflichtige Arbeitszeit.
- Bei Außendienstmitarbeitern gehört das reine Reisen auch ohne sonstige Arbeitsleistung zur geschuldeten Arbeit mit dazu und ist damit auch zu vergüten. Dies gilt auch für die Fahrt zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück. Eine Harmonisierung mit dem Grundsatz, dass Wegezeiten nicht zu vergüten ist, findet insoweit statt, als für den (fiktiven) Weg zum Betrieb ein Abzug gemacht werden kann.
Bereits in diesem Urteil wurde ein wichtiger Umstand angesprochen, der auch über Außendiensttätigkeiten hinaus Bedeutung gewinnt. Denn das BAG meint, Arbeit sei jede Tätigkeit, die als solche „der Befriedigung eines fremden Bedürfnisses dient“. Bereits hier zeigte sich, dass es für eine Vergütungspflicht gar nicht zwingend ist, dass (wie bei Außendienstlern) das Reisen die eigentliche Tätigkeit ist. Denn wann unternimmt der Arbeitnehmer eine Dienstreise schon zur Befriedigung eines eigenen Bedürfnisses?
Was damit gemeint genau war, zeigte sich noch deutlicher in einer späteren Entscheidung des BAG vom 12.12.2012 (Az.: 5 AZR 355/12). Diese Entscheidung bezog sich nicht mehr auf den „klassischen“ Fall des Außendienstmitarbeiters, sondern auf Montagetätigkeiten eines Elektromechanikers. Hier war also anders als beim Außendienstler das Reisen als solches zweifelsfrei nicht die eigentlich geschuldete Tätigkeit. Dennoch ging das BAG bei den Reisen des Elektromechanikers zu seinen auswärtigen Arbeitsstellen von vergütungspflichtiger Arbeitszeit aus und knüpfte an die bereits im Urteil vom 22.04.2009 genannte Fremdnützigkeit als wesentliches Kriterium für die Definition von „Arbeit“ an. Das BAG führte aus, zur Arbeit gehöre nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Gegenseitigkeitsverhältnis verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise von deren Erbringung unmittelbar zusammenhängt. Zur Arbeit gehöre auch das vom Arbeitgeber angeordnete Fahren vom Betrieb zu einer auswärtigen Arbeitsstelle. Solche Fahrten seien eine primär fremdnützige, den betrieblichen Belangen des Arbeitgebers dienende Tätigkeit und damit „Arbeit“.
Damit dürfte nahezu jegliche vom Arbeitgeber angeordnete Reise zu einer auswärtigen Arbeitsstätte (auch beispielsweise einem Kunden) vergütungspflichtige Arbeitszeit sein. Denn diese Reisen unternimmt der Arbeitnehmer stets fremdnützig, nie im eigenen Interesse. Es kommt auch gar nicht darauf an, dass (wie beim Außendienstler) das Reisen Bestandteil der eigentlichen Tätigkeit ist. Allein die Anordnung durch den Arbeitgeber und die Tatsache, dass er an der auswärtigen Arbeitsstelle im Interesse seines Arbeitgebers tätig werden soll, reicht für die Vergütungspflicht.
Die betriebliche Praxis dürfte von dieser vom Bundesarbeitsgericht festgestellten Rechtslage noch in weitem Umfang abweichen.
Um auf das eingangs genannte Argument zurückzukommen, Reisezeit sei nicht vergütungspflichtig, weil der Mitarbeiter ja frei entscheiden könne, was genau er während der Reise unternehme: Dieses Argument hat nach der zitierten Rechtsprechung keine Bedeutung. Denn es ändert ja nichts daran, dass der Arbeitnehmer die Reise nur deshalb unternimmt, weil sie vom Arbeitgeber angeordnet wurde und er an an seinem Bestimmungsort im Interesse seines Arbeitgebers seine Arbeitsleistung erbringen soll.
Die einzige gute Nachricht für Arbeitgeber, welche sich aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 12.12.2012 ergibt, ist, dass Fahrtzeiten nicht zwingend mit der „normalen“ Vergütung zu bezahlen sind. Vielmehr kann auch eine abweichende (niedrigere) Vergütung vereinbart werden. Wenn allerdings – wie in der Praxis oft der Fall – keine geringere Vergütung für Reisezeit vereinbart ist, richtet sich die Bezahlung nach dem „normalen“ Entgelt.
Streng von der Frage, welche Reisezeit als Arbeitszeit zu vergüten ist, zu unterscheiden ist übrigens die Frage, wann Reisezeit arbeitsschutzrechtlich als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes gilt. Soweit dies der Fall ist, müssen insbesondere die Höchstarbeitszeiten des Arbeitszeitgesetzes (10 Stunden täglich, 48 Stunden pro Woche) eingehalten werden. Diesbezüglich hat das BAG mit Urteil vom 11.07.2006 (Az.: 9 AZR 519/05) entschieden, dass Reisezeit dann als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes gilt, wenn der Arbeitnehmer sie zur Erledigung seiner Arbeitsaufgaben nutzen muss (beispielsweise Aktenbearbeitung, Beantwortung von E-Mails, Vor- und Nachbereitung von Terminen). Reisezeit, bei welcher dies nicht der Fall ist, und bei welcher der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer lediglich die Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels vorgibt und es dem Arbeitnehmer überlässt, wie er diese Zeiten nutzt, sei keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes. Der Arbeitnehmer könne insoweit tun, was ihm beliebt, er könne insbesondere auch private Angelegenheiten erledigen oder schlafen. Das Argument, der Arbeitnehmer könne die Reisezeit so verbringen, wie er wolle, hat also arbeitsschutzrechtlich (aber auch nur insoweit) durchaus Bedeutung. Nach überwiegender Meinung ist eine Einordnung als Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes im Übrigen zu bejahen, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Benutzung eines Pkw vorschreibt und der Arbeitnehmer den Pkw selbst steuern muss. All dies hat aber – wie nochmals zu betonen ist – keine Bedeutung für die Frage, wann Reisezeit zu bezahlen ist. Hierfür kommt es allein auf die oben genannten Kriterien (Anordnung durch den Arbeitgeber, Fremdnützigkeit der Reisezeit) an. Das BAG hat im Urteil vom 12.12.2012 ausdrücklich ausgeführt, die Einordnung von Arbeitszeit nach dem Arbeitszeitgesetz lasse keine Rückschlüsse auf die Vergütungspflicht zu.