Tarifeinheit: Immer Ärger mit den Kleinen
Kleine Gewerkschaft – großer Ärger
„Streik bei Lufthansa trifft 12.000 Passagiere“
„Streik der GDL: Die Bahn kommt … nicht“
„Mediziner-Protest: Hilfe, mein Arzt behandelt mich nicht“
Mit diesen Schlagzeilen hat sich die Mehrheit der Bevölkerung wohl abgefunden. Immer mehr Spartengewerkschaften – mit einer überschaubaren Mitgliederzahl – legen ganze Betriebe und Unternehmen lahm und verursachen dadurch einen immensen Schaden. Nach Auskunft der Lufthansa beliefen sich allein die Belastungen für dieses Unternehmen durch die Streiks der Piloten, vertreten durch die Vereinigung Cockpit mit lediglich ca. 9.000 Mitgliedern, auf knapp 200 Millionen Euro. Auch der Unmut und die Verunsicherung betroffener Kunden wachsen. Der Rückhalt für die Streikenden in der Bevölkerung schwindet auch deswegen, weil die betroffenen Unternehmen bereits teilweise Tarifverträge mit anderen Gewerkschaften abgeschlossen haben und trotzdem bestreikt werden.
Durch solche Streikaufrufe vieler kleinerer Gewerkschaften, die bis vor kurzem ein Schattendasein führten, insbesondere die massiven Streiks bei der Deutschen Bahn sowie bei der Lufthansa, sah sich die Bundesregierung veranlasst, den bis zum Jahr 2010 richterrechtlich geltenden Grundsatz der Tarifeinheit durch eine gesetzliche Regelung wiedereinzuführen.
Goliath schlägt David
Der Gesetzesentwurf wurde von der zuständigen Ministerin Nahles im März 2015 im Bundestag vorgestellt, soll im Mai verabschiedet werden und in diesem Sommer in Kraft treten.
Durch diesen Gesetzesentwurf sollen einige Normen des Tarifvertragsgesetzes (TVG) sowie des Arbeitsgerichtsgesetzes (ArbGG) ergänzt bzw. angepasst werden. Insbesondere soll im TVG eine neue zentrale Kernvorschrift, § 4 a, eingeführt werden. Diese Norm regelt im Wesentlichen, dass im selben Betrieb nur die Tarifverträge der Gewerkschaft anwendbar sind, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Damit gilt wohl in Zukunft: Im Zweifel für die Großen!
Die kleinen Gewerkschaften wie der Marburger Bund oder die Pilotenvereinigung Cockpit werden, wegen der Übermacht der wenigen großen Gewerkschaften wie ver.di oder IG Metall, sich nur in den allerseltensten Fällen durchsetzen können.
Noch ein langer und steiniger Weg
Kaum wurde der Gesetzesentwurf vorgestellt und seitens der Bundesregierung verkündet, an der Verfassungskonformität der neuen gesetzlichen Regelungen bestünden keine Bedenken, werden bereits erste Stimmen laut, die dem Gesetzesvorhaben die Vereinbarkeit mit der Verfassung absprechen. Die Kritik kommt vor allem von den kleinen Gewerkschaften, die befürchten, erneut ihre starke Stellung zu verlieren. Es wird vorgebracht, das Gesetzesvorhaben schränke die Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 Abs. 3 GG unangemessen ein und sei deswegen mit verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht vereinbar. Denn das Grundgesetz gewährleistet den Bürgern eine staatsfreie Selbstorganisation zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Kurzum: Die Bürger müssen selbst entscheiden können, welche Gewerkschaften ihre Interessen vertreten sollen. Nimmt man aber Spartengewerkschaften die Möglichkeit, wirksame Tarifverträge abzuschließen und dadurch das zentrale Streikrecht, schränkt man die Mitglieder der jeweiligen (Sparten-)Gewerkschaft in der Koalitionsfreiheit ein. Ein derartiger Eingriff bedarf einer entsprechenden Rechtfertigung, die – nach Auffassung der Kritiker – beim Regierungsentwurf nicht vorliegt.
Hingegen halten die Bundesregierung sowie insbesondere die Arbeitgeberverbände das Gesetz für verfassungskonform. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes BDA meint beispielsweise, das Gesetzesvorhaben greife in das verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht nicht ein, sondern werde dadurch lediglich ausgestaltet. Auch die zuständige Ministerin ist – nicht unerwartet – von der Vereinbarkeit des Regierungsvorhabens mit dem Grundgesetz überzeugt. In der Debatte im Bundestag am 05. März 2015 sagte sie, dass das Streikrecht und die Koalitionsfreiheit durch das Gesetz nicht angetastet würden.
Jedoch meinen zahlreiche Experten, das Gesetzesvorhaben verstoße in der angedachten Fassung gegen das Grundgesetz. Beispielsweise vertritt der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Herr Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio (im Auftrag der betroffenen Gewerkschaft „Marburger Bund“) die Auffassung, dass eine gesetzlich auferlegte Tarifeinheit einen Eingriff in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit nicht rechtfertigen könne und deswegen rechtswidrig sei. Auch intern werden gegen das Gesetz erhebliche Bedenken geäußert. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hält das geplante Gesetz zur Tarifeinheit für verfassungswidrig. Die Expertengruppe ist ebenfalls der Meinung, dass die von der Bundesregierung vorgebrachten Begründungen – wie etwa die bloße Zunahme von Arbeitskämpfen in letzter Zeit – nicht ausreichend seien, um das verfassungsrechtlich gewährleistete Grundrecht der Koalitionsfreiheit einzuschränken.
Auf Grund dieser Bedenken haben bereits einige Interessenvertreter, beispielsweise. der Beamtenbund (dbb) sowie die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, angekündigt, gegen das Gesetz beim Bundesverfassungsgericht vorgehen zu wollen. Es scheint momentan, dass das Gesetzesvorhaben noch einen längeren Weg vor sich hat und dass spätestens unmittelbar nach der Verabschiedung des Gesetzes zahlreiche Gerichte sich damit beschäftigen werden. Das angestrebte Ziel der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit ist momentan noch in weiter Ferne.