Compliance-Verstöße des Arbeitnehmers: Existenzvernichtung droht
Das BAG hat mit aktuellem Urteil vom 29.04.2021 (Az.: 8 AZR 246/20) entschieden, dass ein Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer unter bestimmten Voraussetzungen die durch die Beauftragung einer auf die Aufklärung von Compliance-Verstößen spezialisierten Anwaltskanzlei verursachten Kosten als Schadensersatz verlangen kann. Damit müssen Arbeitnehmer in solchen Fällen unter Umständen mit existenzvernichtenden Schadensersatzforderungen ihres Arbeitgebers rechnen.
Im zugrundeliegenden Fall ging es um einen Leiter des Zentralbereichs Einkauf eines Unternehmens. Nachdem das Unternehmen Hinweise auf Compliance-Verstöße erhalten hatte, beauftragte es eine auf Compliance-Ermittlungen spezialisierte Anwaltskanzlei. Die durchgeführten Untersuchungen förderten zutage, dass der Mitarbeiter gegen das Schmiergeldverbot verstoßen hatte, private Auslagen auf Kosten des Unternehmens abgerechnet hatte sowie einen mehrfachen Spesenbetrug begangen hatte. Das Unternehmen kündigte den Mitarbeiter fristlos.
Außerdem verlangte das Unternehmen vom Mitarbeiter die Erstattung der entstandenen Anwaltskosten als Schadensersatz. Die Kanzlei hatte ein Stundenhonorar i.H.v. 350 € berechnet. Insgesamt belief sich das Honorar auf 209.679,68 €.
In der Revisionsinstanz hat die Beklagte von diesem Gesamtschaden noch einen Betrag i.H.v. 66.500 € verlangt.
Das BAG vertrat die Auffassung, ein Anspruch des Unternehmens auf Schadensersatz in Höhe der Kosten für die Einschaltung einer auf Compliance-Verstöße spezialisierten Anwaltskanzlei komme grundsätzlich in Betracht. Insbesondere stehe die Regelung des § 12a Abs. 1 S. 1 ArbGG, der als arbeitsrechtliche Spezialregelung nicht nur einen prozessualen, sondern auch einen materiell-rechtlichen Kostenerstattungsanspruch ausschließt, dem nicht entgegen. Diese Norm finde in einem solchen Fall keine Anwendung.
Für eine Schadensersatzpflicht des Mitarbeiters müsse allerdings ein konkreter Verdacht einer erheblichen Verfehlung des Arbeitnehmers vorliegen, und der Mitarbeiter müsse einer schwerwiegenden vorsätzlichen Vertragspflichtverletzung überführt werden. Dann gehören auch die zur Abwendung drohender Nachteile notwendigen Aufwendungen des Geschädigten zum ersatzfähigen Schaden. Die Grenze der Ersatzpflicht richtet sich allerdings danach, was ein vernünftiger, wirtschaftlich denkender Mensch nach den Umständen des Falles zur Beseitigung des Schadens bzw. zu dessen Verhütung als zweckmäßig und erforderlich angesehen haben würde.
In diesem Fall hatte der Mitarbeiter Glück. Das Unternehmen hatte nämlich genau dies nicht hinreichend dargelegt. Es hatte nicht ausreichend vorgetragen, wegen welchen konkreten Verdachts gegen den Mitarbeiter welche konkreten Ermittlungen wann und in welchem zeitlichen Umfang von der Spezialkanzlei ausgeführt wurden.
Dies ist aber lediglich ein handwerklicher Fehler. Es dürfte Unternehmen grundsätzlich möglich sein, einen solchen Sachvortrag zu leisten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Anwaltskanzlei während der Ermittlungen eine detaillierte Dokumentation der einzelnen Ermittlungsschritte vorgenommen hat und sich die entstandenen Kosten aus einer Tätigkeitsaufstellung diesen Ermittlungsschritten genau zuordnen lassen. Unternehmen sind gut beraten, beim Ausgleich diesbezüglicher Anwaltshonorare wegen Compliance-Ermittlungen auf die Einhaltung dieser Kriterien zu achten, um nachfolgend nicht die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen den Mitarbeiter zu gefährden. Wenngleich bislang nur die Pressemitteilung und nicht der Volltext der Entscheidung vorliegt, scheint das BAG gegen die Höhe des Stundensatzes (350 €) allerdings keine Bedenken geäußert zu haben. Tatsächlich dürfte ein solcher Stundensatz für spezialisierte Kanzleien im Bereich Compliance üblich und damit letztlich auch erforderlich sein.
Der Fall zeigt, mit welchem Schadensersatzforderungen Mitarbeiter bei Compliance-Verstößen rechnen müssen. Selbstverständlich ist der durch etwaige vermögensschädigende Handlungen angerichtete „klassische“ Schaden zu ersetzen, also beispielsweise persönliche Bereicherungen und entgangene Gewinne. Darüber hinaus ist aber unter Umständen auch der gesamte weitere Schaden zu begleichen, der dem Unternehmen für die Aufklärung der maßgeblichen Pflichtverstöße entstanden ist. Der im vorliegenden Fall zunächst in Rede stehende Gesamtbetrag i.H.v. 209.679,68 € dürfte insoweit nicht ungewöhnlich sein. Es kann auch noch viel schlimmer kommen. Im vorliegenden Fall bezog der Mitarbeiter bis zum Ausspruch der Kündigung (die arbeitsgerichtlich für wirksam erachtet wurde) ein Bruttojahresgehalt i.H.v. 450.000 €. Für Mitarbeiter, die in niedrigeren Gehaltsklassen verdienen, können Compliance-Verstöße bei solchen Schadensersatzsummen allerdings schnell existenzvernichtend werden.
Henning Schultze, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht