Aktuelles zur Massenentlassung – Besonderheiten bei Elternzeit
Die Anzeigepflicht des Arbeitgebers bei Massenentlassungen nach §§ 17 ff. KSchG ist für den Rechtsanwender ein komplexes Thema, welches genauer Betrachtung bedarf. Wie kaum eine andere Norm sind die Vorschriften zur Massenentlassung einem ständigen Wandel in der Anwendung durch den Europäischen Gerichtshof und nationale Gerichte unterworfen.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht in einer neueren Entscheidung (Beschluss vom 08.06.2016, Az.: 1 BvR 3634/13) für den Sonderfall der Elternzeit den Bedeutungsgehalt der Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige erneut fortentwickelt.
Bei Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen in Elternzeit kam es bei der Anwendung der Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige regelmäßig zu fragwürdigen Ergebnissen.
Grund hierfür ist, dass es für den Schutz bei Massenentlassungen maßgeblich darauf ankommt, dass die Entlassung innerhalb des zeitlichen Rahmens des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG (30 Tage) erfolgt. Nur dann ist die maßgebliche Entlassung anzeigepflichtig, sofern insgesamt die erforderliche Gesamtanzahl an Entlassungen erreicht wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist unter der „Entlassung“ der Ausspruch der Kündigung zu verstehen. Es ist also entscheidend, ob eine bestimmte Kündigung dem Arbeitnehmer bzw. der Arbeitnehmerin innerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugeht. Ist dies der Fall, ist die entsprechende Kündigung anzeigepflichtig, andernfalls nicht.
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, der zu folgen ist, ergibt sich bei dieser Sachlage vor allem in Fällen einer Betriebsschließung ein geringeres Schutzniveau für Mitarbeiter, die sich zum Zeitpunkt der Kündigung in Elternzeit befinden. Denn für diese Personen ist nach § 18 BEEG eine Kündigung nur mit Zustimmung der zuständigen obersten Landesbehörde zulässig. Der Arbeitgeber muss also auch bei einer Massenentlassung regelmäßig zunächst ein Verwaltungsverfahren bei dieser Behörde durchführen, bevor die Kündigung erklärt werden kann. Im Falle einer Betriebsstilllegung wird die Zustimmung von der zuständigen obersten Landesbehörde regelmäßig erteilt, da die Betriebsstilllegung als „besonderer Fall“ im Sinne des § 18 Abs. 1 Satz 4 BEEG anerkannt ist.
Allerdings hat das Erfordernis der vorherigen Durchführung des Verwaltungsverfahrens eine Verzögerung des Kündigungsausspruchs im Vergleich zu den übrigen von einer Betriebsschließung betroffenen Arbeitnehmern/Arbeitnehmerinnen zur Folge. Bei einer Betriebsschließung geht einem Mitarbeiter/einer Mitarbeiterin in Elternzeit die Kündigung deshalb regelmäßig erst außerhalb des nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG maßgeblichen 30-Tage-Zeitraums zu, während die übrigen Kündigungen meist einheitlich und damit innerhalb dieses Zeitraums erklärt werden.
Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts führt deshalb die Anknüpfung des Bundesarbeitsgerichts an den Zugang der Kündigungserklärung in Bezug auf die Anwendung der Vorschriften zur Massenentlassung zu einer faktischen Benachteiligung wegen des Geschlechts, da Elternzeit jedenfalls bislang von wesentlich mehr Frauen als Männern in Anspruch genommen werde. Nach Angaben des statistischen Bundesamts waren im Jahr 2015 fast ein Viertel aller Mütter, deren jüngstes Kind unter 6 Jahren ist, in Elternzeit. Unter den Vätern traf dies nur auf knapp 2 % zu. Diese faktische Schlechterstellung wegen des Geschlechts lässt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Die Anknüpfung des Bundesarbeitsgerichts an den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung verstoße deshalb bei Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen in Elternzeit gegen Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 GG.
Das Bundesverfassungsgericht korrigiert diese verfassungswidrige Rechtsanwendung, indem § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG verfassungskonform dahingehend ausgelegt wird, dass bei Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz der 30-Tage-Zeitraum auch dann als gewahrt gilt, wenn die Antragstellung bei der zuständigen Behörde innerhalb der Frist erfolgt ist. Es kommt also in diesen Fällen nicht auf den Zugang der Kündigungserklärung an, sondern auf den Zeitpunkt der Antragstellung im vorgeschalteten Verwaltungsverfahren.
Interessant ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nicht lediglich von Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen in Elternzeit spricht, sondern generell von Beschäftigten mit Sonderkündigungsschutz. In all diesen Fällen komme es auf die Antragstellung bei der zuständigen Behörde an. Diese Begründung lässt es als wahrscheinlich vermuten, dass beispielsweise auch bei Schwerbehinderten auf die Stellung des Antrages auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung beim Integrationsamt abzustellen ist und nicht auf den Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung. Dies dürfte unabhängig davon gelten, dass bei Schwerbehinderten sicherlich keine Diskriminierung wegen des Geschlechts festzustellen ist.
Außerdem ist wichtig zu beachten, dass auch bei Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen mit Sonderkündigungsschutz keine Einbeziehung in den Schutzbereich der Massenentlassungsanzeige erfolgt, wenn der Antrag auf Zustimmung bei der zuständigen Behörde außerhalb des 30-Tage-Zeitraums gestellt wird. Bei diesem in der Praxis durchaus nicht seltenen Fall bleibt es also bei einer Nichtanwendbarkeit der Vorschriften zur Massenentlassungsanzeige auf die betroffenen Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen.
Link zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts:
http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/06/rk20160608_1bvr363413.html