Keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bei Online-Krankschreibung
Die Ausstellung einer Online-Krankschreibung kann im Einzelfall nicht ausreichend sein, um damit den Arbeitgeber zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zu veranlassen.
Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Grundlage jeder Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ist eine „ordnungsgemäß“ zustande gekommene ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, da dieser nach der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung ein hoher Beweiswert zukommt. Aufgrund einer ärztlicherseits ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung besteht eine Vermutung, dass der Arbeitnehmer infolge Krankheit arbeitsunfähig ist. Von einer ordnungsgemäßen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in diesem Sinne kann nach einer – bereits im Jahr 1976 – ergangenen Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts jedoch nicht ausgegangen werden, wenn der Ausstellung keine Untersuchung vorausgegangen ist und mangels Patientenbeziehung auch eine Ferndiagnose ausscheidet (BAG, Urteil vom 11. August 1976, Az.: 5 AZR 422/75). Auch wenn mittlerweile die Voraussetzungen gelockert wurden, unter denen Krankschreibungen auch ohne persönlichen Kontakt mit einem Arzt / einer Ärztin möglich sein sollen (s.u.), so muss eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aufgrund einer „Ferndiagnose“ dennoch gewisse Mindeststandards erfüllen.
Entscheidung des Arbeitsgerichts Berlin
Dies hat auch das Arbeitsgericht Berlin so gesehen. In einem von ihm entschiedenen Fall kam es auf der Webseite des Anbieters voraussehbar zu keinem Zeitpunkt zu einem Kontakt zwischen Arzt und Patient. Der Arzt erhielt vom Arbeitnehmer lediglich vorformulierte Antworten auf vorformulierte Fragen übermittelt, die die Annahme einer bestimmten Diagnose nahelegen. Unter diesen Voraussetzungen komme der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keinerlei Beweiswert zu, so das Arbeitsgericht Berlin. Da der Arbeitnehmer seine Arbeitsunfähigkeit weder mit dieser Bescheinigung noch auf anderem Wege nachweisen konnte, hatte er auch keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall (Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 1. April 2021, Az: 42 Ca 16289/20).
Konsequenzen für die Praxis
Mittlerweile schießen Anbieter, die mit der Ausstellung von Online – Krankschreibungen werben, wie Pilze aus dem Boden. Sie können sich u. a. darauf stützen, dass bereits seit 2020 nach der insoweit maßgeblichen Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie Untersuchungen auch ohne persönlichen ärztlichen Kontakt möglich sein sollen. Während bis Januar 2022 noch gefordert war, dass der Arzt den Patienten / die Patientin persönlich kannte, wird hierauf seit Januar 2022 unter bestimmten Umständen sogar ganz verzichtet. Nach der Anpassung des § 4 Abs. 5 der AU-Richtlinie ist nunmehr auch die Krankschreibung bislang unbekannter Patientinnen und Patienten möglich, sofern sie einen Zeitraum von bis zu drei Tagen nicht überschreitet. Da in dem vom Arbeitsgericht Berlin entschiedenen Fall jedoch überhaupt keine Untersuchung durchgeführt wurde, versagte das Gericht dem klagenden Arbeitnehmer den von ihm geltend gemachten Entgeltfortzahlungsanspruch gänzlich.
Wie ein Arbeitgeber auf zweifelhafte Krankschreibungen reagieren kann, bleibt einer Prüfung des Einzelfalls vorbehalten. Hierzu kann u. a. gehören, dass der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung nur dann leistet, wenn der Arbeitnehmer Auskunft über das Zustandekommen der AU – Bescheinigung erteilt hat. Der Beweiswert einer online erstellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist jedenfalls nur unter bestimmten Umständen mit demjenigen ärztlichen Attest vergleichbar, das aufgrund einer persönlichen Arztvisite erteilt wurde.
Coronabedingte Sonderregelung
Nicht zu verwechseln ist die beschriebene Problematik mit der Sonderregelung des § 8 Abs. 1 der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie. Nach dieser – vorerst noch bis zum 31. Mai 2022 geltenden – Sonderregelung darf eine AU – Bescheinigung auch aufgrund einer „eingehenden telefonischen Befragung“ erfolgen, wenn es um die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Versicherten mit Erkrankungen der oberen Atemwege geht, die keine schwere Symptomatik vorweisen. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung darf in diesen Fällen für einen Zeitraum von bis zu 7 Kalendertagen – und einmalig für einen weiteren Zeitraum von bis zu weiteren 7 Kalendertagen – ausgestellt werden.
Oliver Kieferle, Fachanwalt für Arbeitsrecht