EuGH schränkt Rufbereitschaft weiter ein
Mit aktuellem Urteil vom 09.03.2021 (Az.: C-580/19) hat der Europäische Gerichtshof den arbeitszeitrechtlichen Begriff der Rufbereitschaft näher konkretisiert und damit dessen Anwendungsbereich im Ergebnis weiter eingeschränkt. Rufbereitschaft kann nur noch dann bejaht werden, wenn der Arbeitnehmer währenddessen seine Freizeit tatsächlich im Wesentlichen frei gestalten kann. Viele als „Rufbereitschaft“ bezeichnete Arbeitsformen dürften dem nicht genügen.
Problemstellung
Die Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung sind vielfältig. Deshalb ist es zuweilen schwierig, zu entscheiden, welche einzelnen Formen der Arbeitszeitgestaltung tatsächlich „echte“ Arbeitszeit sind, und welche nicht. Der Unterschied ist wichtig, da sich an die Einordnung als „echte“ Arbeitszeit vielfältige Rechtsfolgen anknüpfen, insbesondere im öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutzrecht. Es gelten dann vor allem die Höchstarbeitszeitgrenzen und die zwingenden Ruhezeiten.
Besonders umstritten ist die Einordnung von Rufbereitschaft.
Definition der Rufbereitschaft
Rufbereitschaft liegt vor, wenn der Arbeitnehmer verpflichtet ist, auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Die Rufbereitschaft unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt vom Bereitschaftsdienst, der in jedem Falle als „echte“ Arbeitszeit einzuordnen ist. Bei der Rufbereitschaft kann der Arbeitnehmer sich nämlich an einem Ort seiner Wahl aufhalten. Diesen Ort muss er regelmäßig dem Arbeitgeber anzeigen und außerdem seine jederzeitige Erreichbarkeit gewährleisten. Die Abgrenzung zwischen beiden Formen der Arbeitszeitgestaltung ist allerdings fließend. Auch bisher galt bereits in der Rechtsprechung des BAG, dass der Arbeitnehmer in seiner Ortswahl nicht derart eingeschränkt sein darf, dass er faktisch gezwungen ist, sich in der Nähe seines Arbeitsortes aufzuhalten. Dann sei die Grenze von der Rufbereitschaft zum Bereitschaftsdienst überschritten, und es liege „echte“ Arbeitszeit vor.
III. Die Entscheidung des EuGH
Wo genau die Grenze verläuft, ist stets eine Frage des Einzelfalles. Eine gute Konkretisierung lässt sich aber der aktuellen EuGH-Entscheidung entnehmen.
In dieser ging es um einen Feuerwehrmann aus Offenbach, der seine Rufbereitschaft außerhalb der Dienststelle verbringen durfte. Er hatte jedoch die Vorgabe, innerhalb von 20 Minuten in Arbeitskleidung mit dem Einsatzfahrzeug die Stadtgrenze zu erreichen. Seiner Meinung nach schränkte ihn diese Vorgabe so sehr ein, dass der als „Rufbereitschaft“ bezeichnete Dienst tatsächlich „echte“ Arbeitszeit war.
Wenngleich der EuGH sich im Ergebnis nicht festlegte, ob in diesem Fall die Grenze der Rufbereitschaft zum Bereitschaftsdienst überschritten war, lassen die Ausführungen des EuGH eine deutliche Tendenz zur Bejahung dieser Frage erkennen. Zwar hat der EuGH ausgeführt, dass Rufbereitschaft nur dann in vollem Umfang Arbeitszeit darstellt, wenn es Einschränkungen gibt, die die Möglichkeit des Arbeitnehmers, seine Freizeit zu gestalten, „ganz erheblich beeinträchtigen“. Als Einschränkungen kommen nationale Rechtsvorschriften, Tarifverträge oder sonstige Einschränkungen durch den Arbeitgeber in Betracht. Ob dies der Fall ist, müssen die nationalen Gerichte jeweils im Einzelfall entscheiden und dabei eine Gesamtwürdigung aller Umstände vornehmen. Nach Auffassung des EuGH müssen bei der Abgrenzung zwischen Rufbereitschaft und Arbeitszeit insbesondere die Folgen der Zeitvorgabe (hier: 20 Minuten) und die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Bereitschaftszeit berücksichtigt werden. Unserer Meinung nach dürfte kaum anzunehmen sein, dass ein Feuerwehrmann, der innerhalb von 20 Minuten (und auch noch in Einsatzkleidung) jederzeit die Stadtgrenze erreichen können muss, noch frei seine Freizeit gestalten kann, während er auf Abruf bereitsteht. Damit liegt aus unserer Sicht im Fall der EuGH-Entscheidung „echte“ Arbeitszeit vor. Entscheiden muss dies aber schlussendlich das zuständige nationale Gericht. Es handelte sich bei dem Verfahren vor dem EuGH nämlich nur um ein sogenanntes Vorabentscheidungsverfahren. Der EuGH teilte also seine Auslegung der maßgeblichen europarechtlichen Richtlinie dem vorlegenden Gericht mit. Dies war das Verwaltungsgericht Darmstadt. Man darf also gespannt sein, wie das Verwaltungsgericht Darmstadt schlussendlich die Sache entscheidet.
In jedem Falle ist wichtig zu beachten, dass die Entscheidung nur den arbeitsschutzrechtlichen Begriff der Arbeitszeit betrifft, also insbesondere die Höchstarbeitszeit und die zwingenden Ruhezeiten. Nicht unmittelbar von der Entscheidung getroffen ist der sogenannte vergütungsrechtliche Begriff der Arbeitszeit, also die Frage, ob und in welcher Höhe die Arbeitszeit zu bezahlen ist. Für diese Frage gelten andere Rechtsgrundsätze.