Die Vergütung von Überstunden im Arbeitsverhältnis: Vom „Phantom“ zum Selbstläufer?
Immer wieder tritt in der Praxis die Frage auf, ob der Mitarbeiter die Bezahlung geleisteter Überstunden verlangen kann. Während in der Vergangenheit Arbeitnehmern oft die Auskunft gegeben werden musste, dass Recht haben und Recht bekommen zweierlei Dinge sind, haben sich die diesbezüglichen Prozesschancen durch die jüngste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erheblich verbessert. Die zuvor kaum zu erfüllenden Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitnehmers wurden wesentlich erleichtert. Mit seinem jüngsten Urteil vom 25.03.2015 (Az.: 5 AZR 602/13) hat das Bundesarbeitsgericht für Arbeitnehmer noch einmal die Möglichkeiten der Anspruchsdurchsetzung günstiger gestaltet. Dieses Urteil gibt Anlass, die derzeit geltende Rechtslage noch einmal im Zusammenhang darzustellen.
Was sind überhaupt Überstunden?
Überstunden sind grundsätzlich die Arbeitszeit, die der Arbeitnehmer über die für sein Beschäftigungsverhältnis geltende Arbeitszeit hinaus arbeitet. Die geltende Arbeitszeit ergibt sich in der Regel aus dem Arbeitsvertrag, unter Umständen auch aus einem für das Arbeitsverhältnis geltenden Tarifvertrag. Welche Arbeitszeit gilt aber, wenn der Arbeitsvertrag insoweit nur unklare Regelungen enthält?
Diesbezüglich hat das Bundesarbeitsgericht in zwei aktuelleren Entscheidungen einige Auslegungshilfen gegeben. Wenn im Arbeitsvertrag zumindest geregelt ist, dass der Arbeitnehmer „in Vollzeit“ beschäftigt wird, so ist diese Formulierung dergestalt auszulegen, dass die regelmäßige Dauer der Wochenarbeitszeit 40 Stunden beträgt (BAG, Urteil vom 25.03.2015, Az.: 5 AZR 602/13). Ist im Arbeitsvertrag hingegen gar keine Bestimmung über die Dauer der Arbeitszeit getroffen, geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass die Parteien die betriebsübliche Arbeitszeit vereinbaren wollten. Dies entspreche dem Vertragswillen verständiger und redlicher Vertragspartner. Die betriebsübliche Arbeitszeit für Vollzeitkräfte sei die in dem jeweiligen Betrieb regelmäßig geleistete Arbeitszeit (BAG, Urteil vom 15.05.2013, Az.: 10 AZR 325/12). Dies dürfte auch gelten, wenn die so genannte Vertrauensarbeitszeit eingeführt wurde. Auch bei Vertrauensarbeitszeit entfällt nicht die Vereinbarung einer bestimmten Dauer der geschuldeten Arbeitszeit, sondern es wird nur die Einhaltung dieser Verpflichtung nicht kontrolliert. Auch bei Vertrauensarbeitszeit können also Überstunden entstehen, wenn über die betriebsübliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet wird.
Sind Überstunden grundsätzlich zu bezahlen?
Ist hierzu keine Vereinbarung getroffen, gilt, dass Überstunden nur bei einer so genannten objektiven Vergütungserwartung des Arbeitnehmers gesondert zu bezahlen sind. Dies folgert die Rechtsprechung aus § 612 Abs. 1 BGB, wonach eine Vergütung als stillschweigend vereinbart gilt, wenn die Dienstleistung „den Umständen nach nur gegen eine Vergütung zu erwarten ist.“ Dies dürfte in der Regel zwar der Fall sein. Es besteht aber kein allgemeiner Rechtsgrundsatz, wonach jede Arbeit außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit zu vergüten ist (BAG, Urteil vom 17.11.2011, Az.: 5 AZR 406/10). Bei Diensten höherer Art (zum Beispiel bei Rechtsanwälten) oder bei Arbeitnehmern mit Führungsaufgaben, die nicht unter das Arbeitszeitgesetz fallen (zum Beispiel Chefärzte und leitende Angestellte) kann ein Entgeltanspruch für Überstunden ausscheiden. Eine weitere wichtige Grenze hat das Bundesarbeitsgericht in einer jüngeren Entscheidung vom 22.02.2012 gezogen (Az.: 5 AZR 765/10): Bei Zahlung einer deutlich hervorgehobenen Vergütung, welche bei Überschreitung der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung zu bejahen ist, besteht keine objektive Vergütungserwartung für Überstunden. Diese sind dann mit dem herausgehobenen Gehalt bereits abgegolten. Zusammenfassend dürfte unter Berücksichtigung der genannten Ausnahmen dennoch in den meisten Fällen eine objektive Vergütungserwartung des Arbeitnehmers bestehen und deshalb auch eine grundsätzliche Verpflichtung des Arbeitgebers, Überstunden zu bezahlen.
Überstundenabgeltung im Arbeitsvertrag – wirksam oder nicht?
Oft enthalten Arbeitsverträge Klauseln, nach denen anfallende Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind. Solche Klauseln sind nur wirksam, wenn der Arbeitnehmer aus der Klausel zweifelsfrei ersehen kann, in welchem Umfang Überstunden mit dem Gehalt bereits abgegolten sein sollen. Dies ist insbesondere bei der oft vorkommenden Klausel, dass „erforderliche Überstunden“ oder schlicht und einfach jedwede Überstunden mit dem normalen Gehalt abgegolten sein sollen, nicht der Fall. Eine solche Klausel verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und ist damit unwirksam (BAG, Urteil vom 01.09.2010, Az.: 5 AZR 517/09). Die Überstunden sind dann zu vergüten, wenn – wie oben beschrieben – eine objektive Vergütungserwartung besteht. Zulässig ist aber eine vertragliche Abgeltung zeitlich konkret eingegrenzter Überstunden (beispielsweise „10 Stunden pro Monat“) oder die Abgeltung von Überstunden in den Grenzen des Arbeitszeitgesetzes. Im letzteren Fall gilt, dass Überstunden bis zur Höchstarbeitsgrenze des Arbeitszeitgesetzes von 48 Stunden wöchentlich bereits mit dem normalen Entgelt abgegolten sind.
Wann bestehen Chancen auf eine arbeitsgerichtliche Durchsetzung eines Anspruchs auf Überstundenvergütung?
Kommen wir zum eigentlichen Kern des Problems: Wenn nach den vorstehenden Voraussetzungen grundsätzlich ein Anspruch auf Überstundenvergütung besteht, unter welchen Voraussetzungen ist er dann auch mit Aussicht auf Erfolg gerichtlich durchsetzbar?
Früher war es einem Arbeitnehmer in der Praxis in der Regel nicht möglich, einen Anspruch auf Überstundenvergütung auch arbeitsgerichtlich durchzusetzen. Grund hierfür waren die hohen Anforderungen der Rechtsprechung an die so genannte Darlegungs- und Beweislast. Ein Arbeitnehmer musste im Einzelnen vortragen, an welchen Tagen und zu welchen Tageszeiten er über die übliche Arbeitszeit hinaus gearbeitet hat. Darüber hinaus musste er vortragen, von welcher normalen Arbeitszeit er ausgeht und dass er tatsächlich gearbeitet hat. Schließlich musste er genauestens darlegen, welche geschuldeten Tätigkeiten er ausgeführt hat. In manchen Rechtsstreiten wurde vom Arbeitnehmer gefordert, dass er substantiiert und teilweise minutengenau vortragen muss, welche Tätigkeit er konkret während der geltend gemachten Zeit erbracht hat (vgl. beispielsweise LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 20.07.2011, Az.: 7 Sa 692/10 und LAG Sachsen, Urteil vom 14.10.2010, Az.: 6 Sa 343/10). In arbeitsgerichtlichen Prozessen war deshalb oft lediglich ein sehr geringer Prozentsatz der eingeklagten Forderung durchsetzbar, in Vergleichen war eine Quote von 10 % der geltend gemachten Überstunden nicht unüblich. Aus Arbeitnehmersicht war man daher versucht, die Überstundenvergütung fast als arbeitsrechtliches „Phantom“ zu bezeichnen.
Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat jedoch die Schwierigkeiten der Arbeitnehmer in der Anspruchsdurchsetzung aufgegriffen und für diese wesentliche Erleichterungen gebracht. Zunächst hat das Bundesarbeitsgericht geurteilt, dass der Arbeitnehmer zwar nach wie vor die Darlegungs- und Beweislast für diejenigen Tatsachen hat, aus denen sich der erhobene Anspruch auf Überstundenvergütung ergeben soll. Es gelten jedoch die gleichen Grundsätze wie für die Behauptung des Arbeitnehmers, die Normalarbeitszeit verrichtet zu haben (BAG, Urteil vom 16.05.2012, Az.: 5 AZR 347/11). Danach genügt zunächst der Vortrag, wann der Arbeitnehmer an welchen Tagen von wann bis wann gearbeitet hat oder sich auf Weisung des Arbeitgebers zur Arbeit bereitgehalten hat. Konkrete Tätigkeitsangaben für jede Überstunde muss der Arbeitnehmer auf dieser Stufe der Darlegung aber nicht mehr machen (BAG, Urteil vom 10.04.2013, Az.: 5 AZR 122/12). Darauf muss nun der Arbeitgeber im Rahmen einer abgestuften Darlegungslast substantiiert erwidern und im Einzelnen vortragen, welche Arbeiten er dem Arbeitnehmer zugewiesen hat und an welchen Tagen der Arbeitnehmer von wann bis wann diesen Weisungen (nicht) nachgekommen ist. Eine solche substantiierte Erwiderung dürfte nunmehr dem Arbeitgeber kaum möglich sein, so dass fast von einem „Selbstläufer“ gesprochen werden kann, sofern der Arbeitnehmer nur die vorstehend geschilderten Angaben genau darlegen und notfalls beweisen kann.
Eine weitere Erleichterung bringt nun das eingangs erwähnte aktuelle Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 25.03.2015: Grundsätzlich trägt der Arbeitnehmer auch für die Anzahl geleisteter Überstunden die Darlegungs- und Beweislast. Steht jedoch fest, dass Überstunden auf Veranlassung des Arbeitgebers geleistet worden sind, kann aber der Arbeitnehmer seiner Darlegungs- oder Beweislast für jede einzelne Überstunde nicht in jeder Hinsicht genügen, darf das Gericht den Umfang geleisteter Überstunden schätzen. Dies erleichtert dem Arbeitnehmer beispielsweise in Fällen, bei welchen zeitnahe Arbeitszeitaufschriebe fehlen, der Arbeitgeber das zeitliche Maß der Arbeit nicht kontrolliert hat oder Zeugen nicht zur Verfügung stehen, die Durchsetzung seines Vergütungsanspruchs.
Stets ist allerdings zu beachten, dass der Arbeitnehmer selbstverständlich keine Überstundenvergütung beanspruchen kann, wenn er lediglich Zeit am Arbeitsplatz „absitzt“. Dies bedeutet, dass der Arbeitnehmer auch vortragen und nötigenfalls beweisen muss, dass die Überstunden vom Arbeitgeber angeordnet, gebilligt oder geduldet wurden oder jedenfalls zur Erledigung der geschuldeten Arbeit erforderlich waren (BAG, Urteil vom 10.04.2013, Az.: 5 AZR 142/12). Die bloße Anwesenheit am Arbeitsplatz begründet keine Vermutung dafür, die Überstunden seien erforderlich gewesen. Eine Billigung von Überstunden liegt aber beispielsweise vor, wenn der Arbeitgeber Zeitaufschriften abzeichnet oder in sonstiger Weise erkennbar akzeptiert. Eine (ausreichende) Duldung von Überstunden liegt vor, wenn der Arbeitgeber die Überstundenleistung erkennt, hinnimmt und nicht unterbindet. Der Arbeitnehmer muss dann jedoch zumindest darlegen, von welchen wann geleisteten Überstunden der Arbeitgeber auf welche Weise wann Kenntnis erlangt hat und dass es im Anschluss daran zu einer weiteren Überstundenleistungen gekommen ist (BAG, Urteil vom 10.04.2013, Az.: 5 AZR 142/12).
Die letzte Hürde: arbeitsvertragliche Ausschlussfristen
Nach statistischen Erhebungen werden in Deutschland jährlich mehrere Milliarden Überstunden erbracht. Die Ableistung von Überstunden dürfte also in der Praxis der Regelfall sein. Sofern Arbeitnehmer hinreichend genaue Aufzeichnungen über die von ihnen geleistete Überstunden geführt haben, können bei längeren Zeiträumen durchaus beträchtliche Zahlungsansprüche anwachsen. Die gesetzliche Verjährungsfrist beträgt drei Jahre, für diesen Zeitraum können also grundsätzlich auch rückwirkend Vergütungsansprüche geltend gemacht werden. Bevor Arbeitnehmer nun aber allzu optimistisch hohe zusätzliche Einkünfte aus einem Überstundenguthaben einkalkulieren, lohnt sich allerdings ein Blick in den Arbeitsvertrag. Häufig sind im Arbeitsvertrag Ausschlussfristen enthalten (also beispielsweise eine Bestimmung des Inhalts, dass alle Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis innerhalb einer Frist von drei Monaten schriftlich geltend zu machen sind und ansonsten verfallen). In einem solchen Fall sind die Risiken des Arbeitgebers auf solche Ansprüche begrenzt, die der Arbeitnehmer fristgerecht geltend gemacht hat. Im gegebenen Beispiel könnte ein Arbeitnehmer bei einer Ausschlussfrist von drei Monaten also mit Aussicht auf Erfolg nur die Überstundenvergütung für die zurückliegenden drei Monate gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen und im Streitfalle nachfolgend arbeitsgerichtlich einklagen. Eine wichtige Besonderheit bezüglich Ausschlussfristen im Zusammenhang mit Überstunden verdient jedoch Erwähnung: Führt der Arbeitgeber ein Arbeitszeitkonto und nimmt er in dieses Arbeitszeitkonto die Überstunden des Arbeitnehmers auf, stellt dies eine Anerkennung der Überstunden mit der Folge dar, dass er sich bezüglich der auf dem Arbeitszeitkonto geführten Überstunden nicht mehr auf eine arbeitsvertragliche Ausschlussfrist berufen kann (BAG, Urteil vom 28.07.2010, Az.: 5 AZR 521/09).